
Eine Grenze hat stets zwei Seiten. Meist ein Drinnen und ein Draußen. Oder ein Dabei und ein Außen-vor. Oder ein Wissen und Nicht-Wissen, was sich im Speziellen auch als Verstehen und Nicht-Verstehen äußern kann. Und Grenzen sind dafür da, überwunden zu werden. Im Falle der (ehemaligen) deutsch-deutschen Grenze bedeutet dies nicht nur die Republikflucht und friedliche Revolution, sondern auch das Mahnen und Gedenken. Doch wie bringt man der Nach-Wende-Generation die deutsche Teilung und deren Ende nahe? Mit dem Fahrrad natürlich. Gunnar Fehlau berichtet.

[pd-f/GuF] An unsere Grenzen geraten wir, lange bevor wir überhaupt in der Nähe der ehemaligen innerdeutschen Grenze sind. Bereits kurz nach dem Start am Göttinger Bahnhof stoppen wir auf einer Wiese im Naherholungsgebiet „Kiessee“. Zusammen mit dem Initiator dieser Fahrt, dem ehemaligen Kasseler Jugendbildungsreferenten Bijan Otmischi, habe ich einige Gemeinschaftsaufgaben und -spiele rund um die Begriffe Grenze und Freiheit erarbeitet.
Im bodennahen Oktobernebel auf einer Feldwegkreuzung stehend sind die 15 Teilnehmer nun angehalten, sich in Zweiergruppen gegenseitig zu erklären, was für sie Freiheit bedeutet und welche Grenzen ihr eigenes Leben heute bestimmen. Die Paare bestehen stets aus einem Jugendlichen und einem Erwachsenen. Denn das ist die Idee dieser Fahrt: Unter dem Motto „Strampeln auf dem Grenzweg durch deutsche Geschichte“ waren Elternteile mit ihren jugendlichen Kindern zu einer zweitägigen Mountainbike-Tour von Göttingen nach Bad Sooden-Allendorf entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze eingeladen. Organisiert wurde die Fahrt vom Jugendbildungswerk des Landkreises Kassel, ich habe die Streckenausarbeitung und Tourenleitung übernommen.
Grenzen und Freiheit: für jeden etwas anderes
Paul, 13, berichtet von den Grenzen beim Parkour, die er immer wieder überspringen möchte. Und Stefanie, 12, kennt die Ausgrenzung, wenn das Taschengeld für einen Kinobesuch mit der Clique nicht reicht. Hans, ein Mittvierziger und aktiver Mountainbiker, schwärmt von der Freiheit, mit dem Rad überall hinfahren zu dürfen. Christian, 13, erzählt dagegen von der Unfreiheit, den Lehrer nicht kritisieren zu können, weil „der ja später die Noten macht!“ Die Stimmung in der Gruppe schwankt zwischen Dankbarkeit für die Freiheit der Gegenwart und Entsetzen über deren Begrenztheit. Zeit für Ablenkung: Wir erklimmen den ersten Anstieg des Tages hinauf zur Diemardener Warte, dem letzten komplett erhaltenen Wartturm des mittelalterlichen Frühwarnsystems für Göttingen, während von den Feldern gegenüber der Nebel weicht und plötzlich Windräder, Riesen aus der Neuzeit, auftauchen.
Von Reinhausen aus geht es stetig und leicht bergauf nach Lichtenhagen und weiter bis auf den Heidkopf. Diesen kennen die meisten aus dem Verkehrsfunk, wenn es sich vor dem Heidkopftunnel der A38 staut. Auf seinem Rücken treffen wir erstmals auf den Kolonnenweg der DDR-Grenzer und damit auf den exakten Verlauf der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. „Rollercoaster Hills“ heißen die welligen Bergstrecken, die sich beim Bergabfahren mit etwas Mumm und Geschick durchaus kraftsparend fahren lassen. Ein solches Filetstück der zweitägigen Tour haben wir nun vor uns. Und wieder tun sich Grenzen auf. Manches Rad ist für das Schlagloch-Stakkato der Lochplatten nicht so recht geeignet, bisweilen ist es aber auch der Fahrer, der das Tempo bergab begrenzen und so anschließend anstrengend kurbeln oder gar schieben muss.
Leerer Bauch studiert nicht gern

Die Achterbahnpassage endet, als der Kolonnenweg den Pilgerweg „Loccum-Volkenroda“ kreuzt. Ein guter Ort, um die Begriffe „Freiheit“ und „Grenzen“ aus dem politischen Kontext in den religiösen zu überführen. Nach ein paar lebhaften Wortbeiträgen stockt die Diskussion, vor allem bei den Jugendlichen. Das beruht mitnichten auf einer pubertären Abwehrhaltung, sondern ist schlicht dem Hunger geschuldet. Basale Bedürfnisse wollen befriedigt sein. Wir brettern die Schotterpiste zum Rittergut Besenhausen herunter, nur um vor den verschlossenen Türen des berühmten Hof-Cafés zu stehen. Die Stimmung ist am Boden! Väter, voller Vorfreude auf einen frischen Kaffee, hängen in den Seilen und sind außerstande, die Enttäuschung des Nachwuchses aufzufangen … Doch Bijan zückt Vorräte aus dem 
Am nächsten Morgen führt uns der Kolonnenweg zum Werrablick, über einen erstklassigen Singletrack geht es zum zweiten Frühstück an der Teufelskanzel. Das dort gelegene urige Wirtshaus ist ein beliebtes Ausflugsziel. Wie ein Hexenhäuschen liegt es mitten im Wald. Vor der Abfahrt wird nochmals durchgezählt: kein Kind im Kerker und alle gut gestärkt vom Frühstück!
Das Unbegreifliche lässt sich nur erfahren
Es ist mittlerweile Mittag, als wir erneut von der Landstraße auf den Plattenweg abbiegen. Geradeaus führt er den Hügel hinauf und wird immer steiler. Deutsche Grenzen-Gründlichkeit kennt keine Serpentinen. Einziges Zugeständnis an die Topographie: Die Lochplatten liegen in besonders steilen Passagen quer, so dass die Löcher als Leitersprossen dienen. Oben angekommen fahren wir ins Grenzmuseum Schifflersgrund, der ersten Gedenkstätte ihrer Art im wiedervereinten Deutschland. Perfider lässt sich die Architektur des Todes nicht erfahren, binnen eines Kilometers wandelt sich das wilde naturbelassene Grüne Band zur „restaurierten“ Gedenkstätte in Form eines konservierten „Antifaschistischen Schutzwalls“.

[Text & Fotos: www.pd-f.de]
Literaturtipp

Im Buch „Endlich Rasen“ hat Henri Lesewitz, Redakteur beim MTB-Magazin BIKE, seine Erfahrungen während eines Radtripps auf dem ehemaligen innerdeutschen Grenzstreifen festgehalten. Lesewitz, selbst ehemaliger Nachwuchs-Spitzenfahrer im DDR-Radkader, gelingt mit diesem Buch in seiner gewohnt lockerern (selbst-)ironischen Art ein sehr unterhaltsamer Blick in die deutsch-deutsche Vergangenheit und Gegenwart, und so ganz nebenbei erfährt man einiges über den Alltag und die Methoden in der Sportförderung der DDR.
„Endlich Rasen“ hält so einige Lacher bereit, zeigt aber auch durchaus die ernsten Seiten des (Radfahrer-) Lebens. Gerade durch die lebendige und im einmaligen „Lesewitz-Stil“ gehaltenen Sprache gehört das Buch zu meinen Lieblingsbüchern und sollte im Bücherschrank jedes Radbegeisterten zu finden sein.
Erhältlich ist „Endlich Rasen“ (ISBN-Nummer: 3768832236) unter anderem idealerweise beim lokalen Bücherladen Ihres Vertrauens.
Jetzt Velostrom-Newsletter abonnieren:
[wysija_form id=“1″]






